das Leben eines Fahrradkuriers

Der Kurier mit der 50-Stunden-Woche

Marcus Fricke ist Radprofi, obwohl er noch nie an einem Rennen teilgenommen hat.

 

Wenn irgendwo ein großer Stein auf der Straße liegt, gibt es zwei Möglichkeiten: Dafür sorgen, dass ihn jemand wegräumt – oder einen Umweg fahren. Für den Umweg braucht man meistens länger, aber man kommt viel herum. Marcus Fricke hat, was die Entfernung betrifft, schon zehn Mal die Erde umrundet, obwohl er nur im Großraum München unterwegs war. Er ist einer der wenigen hauptberuflichen Fahrradkuriere und davon überzeugt, dass es unnötig ist, immer überall am schnellsten zu sein.

Diese Einschätzung ist nicht einfach Frickes persönliche Meinung, er kann sie nach mittlerweile 20 Jahren als Kurierfahrer auch mit Zahlen belegen. "Ich führe Statistiken", sagt er, "um zu sehen, bei welcher Durchschnittsgeschwindigkeit ich den besten Umsatz erziele." Denn als Fahrer für einen Münchner Fahrradkurierdienst, erklärt er, komme es darauf an, möglichst viele Aufträge parallel abzuarbeiten.

 

Extrem hart

Aus der Zentrale werden die Aufträge per Funk verteilt – und wenn er zu schnell unterwegs ist, kann es ihm passieren, dass er an einem potentiellen Kunden schon vorbeigeradelt ist. Fricke ist Radprofi, obwohl er noch nie an einem Rennen teilgenommen hat. An fünf Tagen in der Woche legt er bei jedem Wetter auf seinem Mountainbike jeweils 100 bis 150 Kilometer zurück. Bei einer Fahrgeschwindigkeit von 28 km/h auf der freien Strecke ergibt das im Stadtgebiet eine 50-Stunden-Woche, die er ausschließlich im Sattel verbringt. "Extrem hart" sei das, sagt Fricke, "aber ein Glücksfall für mich, weil ich in jedem anderen Beruf vermutlich Probleme hätte."

Der 48-Jährige kennt sich mit Umwegen nicht nur auf der Straße aus. Er hat ein Studium abgeschlossen, aber fast doppelt so lange wie alle anderen gebraucht. Warum, wusste er lange nicht, bis bei seiner Schwester ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom diagnostiziert wurde. "Da sie meinen Lebensweg kennt, meinte sie, ich solle mich auch mal überprüfen lassen", sagt Fricke. Seit dem Test weiß er, dass es eine medizinische Ursache dafür gibt, dass er "sehr schwer lernfähig" ist.

Verändert hat sich sein Leben durch die Diagnose aber kaum – der Stein, den er schon sein ganzes Leben umfahren muss, bekam nur endlich einen Namen. Fricke arbeitete damals bereits als Kurierfahrer und ist dabei geblieben, "weil hier jeder eine Chance hat, wenn er den Job ernst nimmt und sich an die Spielregeln hält". Die Identifikation mit seinem Beruf geht bei Fricke so weit, dass er, wenn er über sich selbst spricht, oft nicht "ich", sondern "der Kurier" sagt.

 

Mit 20.000 Kilometern im Jahr absolviert er etwa das halbe Pensum eines Radrennfahrers, der sich auf dem Niveau eines Tour-de-France-Teilnehmers befindet, mit dem Unterschied, dass er weder einen Masseur noch Ernährungsberater oder Sponsoren an seiner Seite hat. Dafür das Finanzamt. Fricke muss sich um alles selbst kümmern und trotzdem leben wie ein Profisportler. Er erweckt nicht den Eindruck, als fände er das ungerecht. Aus seinen Worten über den Profi-Sport klingt Mitleid für die Athleten, die "quasi gezwungen" würden, zu illegalen Mitteln zu greifen, "weil es immer andere gibt, die vom Talent her nicht an sie heranreichen, aber dopen".

Fricke liebt seinen Sport. Dopingmissbrauch macht ihn traurig. Nicht, weil er sich betrogen fühlt, sondern weil er jeden Tag an sich selbst beobachtet, was der Körper ohne illegale Mittel leisten kann. "Das ist faszinierend", sagt er. Als Kurierfahrer bringe Doping gar nichts, sagt er, weil nicht die Geschwindigkeit über den Erfolg entscheide. "Man sollte sich zum Beispiel zwölf Stopps mit Adresse merken können, ohne etwas aufzuschreiben, und in der Lage sein, sie in einer Ideallinie anzuordnen", sagt er. Und gesund bleiben. Denn wer nicht fährt, verdient kein Geld.

Fricke wird nicht oft krank, höchstens einmal in drei Jahren erwischt ihn eine Erkältung. "Weil ich so solide lebe, dass meine Immunkraft immer ausreicht", sagt er. Solide leben bedeutet für ihn mindestens acht Stunden Schlaf, wenig Alkohol, 5000 Kilokalorien am Tag und im Sommer bis zu acht Liter Wasser täglich. Bei 5000 Kalorien kann er nicht wahllos essen. Es gibt Nudeln und viel Rohkost. Und Kohlehydrat-Eiweiß-Konzentrate – natürlich anabolikafrei, "dafür gibt es Zertifikate auf der Packung".

Sein Trinkwasser versetzt er mit Kieselerde, damit der Mineralstoffhaushalt nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Es sieht nicht besonders lecker aus, eher ein bisschen wie stark verdünnte Wandfarbe, "schmeckt aber nach Maracuja", sagt Fricke. Bis Mitte fünfzig glaubt er sein Niveau auf diesem Weg noch halten zu können, "aber das ist die absolute Obergrenze". Für das Leben danach muss man in seinem Beruf vorsorgen. Mit seiner Ortskenntnis könnte Fricke problemlos Taxi fahren, doch er schüttelt energisch den Kopf.

 

Da ist er wieder, der große Stein auf der Straße. "Auf gar keinen Fall", sagt Fricke, "ich vertrage keine hohen Geschwindigkeiten. Selbst als Beifahrer wird mir bei über 80 km/h speiübel". Er mag Geschwindigkeiten, die er selbst produzieren kann. Er hat auch gar keinen Führerschein. Sorgen sind trotzdem unangebracht, denn wie immer hat er sich schon einen Umweg ausgedacht, mit dem der kürzeste Weg in punkto Attraktivität schwer mithalten kann. Er will nach Bulgarien auswandern und einen Fahrradladen eröffnen. "Dort werden gerade erstmals Radwege gebaut – es gibt also Nachholbedarf", sagt er. Fricke will sich noch zwei Jahre Zeit lassen für seinen Plan, Angst hat er nicht. "Das krieg ich hin", sagt er, "das Fahrrad hat einfach Zukunft."

 

 

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